Zurück zur Platte — Was mein eigenes Vinyl-Revival für mich bedeutet

Sebastian Stapf
5 min readOct 18, 2019

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Photo by James Sutton on Unsplash

Geboren in den Achtzigerjahren, in der — neben vielen anderen Sachen — restriktiven ehemaligen DDR, birgt die Schallplatte als Medium deutliche Erinnerungen an meine Kindheit.
Aus der Erinnerung formen sich deutliche Bilder in meinem Kopf, wie ich vor einem Plattenspieler saß. Die fernen Erinnerungen spielen immer noch leise die Noten von „Dream a little Dream of me“ von den Mamas and the Papas, genauso wie Shirley Basseys „History is Repeating“ — gerade der Titel eine musikalische Vorahnung.

Weder kann ich mich erinnern, woher diese Platten kamen — etwas undenkbares und regelrecht gefährliches wie westliche Medien in dem sozialistischen Kontrollstaat — noch wohin sie mit samt dem Plattenspieler verschwanden. Aber sie waren ein imperativer Teil meiner musikalischen Genese. Fortsetzung fand das alles in meiner Erinnerung — so fair muss ich selbst zu mir sein — mit der Kassette und dem Walkman. Gefühlt dudelte darin nur eines — das Grammy nominierte Album „Automatik for the People“ der erfolgreichen Alternative Rock-Band, REM.

Das kleine Plastikrechteck mit dem sich windenden Magnetband wich bald der Compact Disc. Meine erste CD damals, und ich mag mich nicht für den schlechten Geschmack eines Geschenks an mich entschuldigen, weder für den Schenkenden, als für mich als Hörenden, war das „Batman Exclusivities Soundtrack Album“ by Nelson Riddle.

Ich übersprang die Mini-Disc komplett und fand mich selbst in dem Zeitalter des Streaming wieder, in dem ich selbst Perlen meiner eigenen musikalischen Prägung wiederentdeckte und ansonsten mich dem Zeitalter musikalischer Super-Exposition erfreute.

Für diejenigen, die alt genug sind, sich zu besinnen, dass das ganze Franchise um den Flattermann nicht mit Bale und Nolan oder Keaton und Burton aus dem Comic auf die Leinwand kroch, war wie für mich die 1960er Version von Adam West’s nicht ganz so düsteren Ritter, der erste Berührungspunkt. Und ich erinnere mich, Nelsons Big Band-Ensemble intonierte Fahrstuhlmusik-Medley „Holy-hole-in-the-Doughnut wieder besserer Musikkenntnis, hoch und runter gespielt zu haben.

Ich übersprang die Mini-Disc komplett und fand mich selbst in dem Zeitalter des Streaming wieder, in dem ich selbst Perlen meiner eigenen musikalischen Prägung wiederentdeckte und ansonsten mich dem Zeitalter musikalischer Super-Exposition erfreute. Mit Sicherheit habe ich seitdem mehr und mehre neue Musik gehört, als in meinem ganzen Leben.

Die weltweiten Plattenverkäufe und deren Einnahmen daraus, sind in den letzten zehn Jahren um vierhundert Prozent gestiegen. The Album-Charts bei Amazon für Schallplatten sind längst ein Spiegel der Streaming-Charts geworden. Es werden heute mehr neue Plattenspieler als CD-Spieler verkauft.

Aber seit dem letzten Jahr fand ich mich in dem Besitz zweier Plattenspieler und einer wachsenden Plattensammlung wieder. Der Inhalt dieses Regals direkt neben meinem Lesesessel reicht von Blues-Klassikern eines Blind Willy Johnson, zu frisch gepressten Soundtracks und „wiedererfundenen“ Led Zeppelins.

Was hat sich also verändert? Was zog mich in den Sog des „Vinyl Revival“?
Und dieses Wiederaufkommen des Vinyls ist ein durchaus Musik-kulturelles, genauso wie ökonomisches. Die weltweiten Plattenverkäufe und deren Einnahmen daraus, sind in den letzten zehn Jahren um vierhundert Prozent gestiegen. The Album-Charts bei Amazon für Schallplatten sind längst ein Spiegel der Streaming-Charts geworden. Es werden heute mehr neue Plattenspieler als CD-Spieler verkauft. Meine Frage nach dem Warum ist doch wohl eher eine persönliche und hat weitaus mehr Hintergrund, als nur audiophiles Gehabe.

Streaming — zumindest für mich — ist zur Fast Food-Version des Audio-Entertainments geworden. Playlist aufgerufen, passend zur aktuellen Stimmung oder einfach als nichtsklingendes Hintergrundrauschen für anderweitig aufmerksamkeitsfordernde Tätigkeiten.

Für jemanden wie mich, der ein gut zubereitetes Essen zu schätzen und genießen weiß, sowohl beim Zubereiten als auch beim Verzehren, birgt das die perfekte Analogie. Streaming — zumindest für mich — ist zur Fast Food-Version des Audio-Entertainments geworden. Playlist aufgerufen, passend zur aktuellen Stimmung oder einfach als nichtsklingendes Hintergrundrauschen für anderweitig aufmerksamkeitsfordernde Tätigkeiten. Digitaler Abspielknopf gedrückt und einfach Titel nach Titel durchlaufen lassen. Sicherlich nützlich, wenn es ums Beiwerk beim Schreiben geht oder der Haushalt „geschmissen“ werden muss. Der Dinner-Jazz in Dauerschleife für die richtige Szenensetzung Freitagabend mit Freunden. Der Deutsche schweigt halt eher bei der Nahrungsaufnahme und unbequeme Stille kann den Appetit verderben.

Ist das aber tatsächlich Musikhören? Es bleibt alles beim dem Wort „Hintergrundrauschen“ hängen. Es mag nützlich sein eine erdrückende Stille aus dem Raum zu vertreiben, während der Cursor repetitiv-drohend auf einer leeren Seite blinkt und erwartungsvoll in den Startlöchern steht, um loszuschießen und bedeutungsvolle Buchstaben hinter sich zu lassen. Noch mal, ist das wirklich Musikhören?

Es mag nützlich sein eine erdrückende Stille aus dem Raum zu vertreiben, während der Cursor repetitiv-drohend auf einer leeren Seite blinkt und erwartungsvoll in den Startlöchern steht, um loszuschießen und bedeutungsvolle Buchstaben hinter sich zu lassen. Noch mal, ist das wirklich Musikhören?

Also zurück zum Fast Food. Nichts, was man wirklich genießt, sondern eher um den Magen zu füllen. Ich habe noch niemanden lustvoll-genießerisch in einer der hiesigen Systemgastronomien vor sich hin stöhnen hören, ob der wohlfeilen aber zweifelhaft herkünftigen Fleischpatties. Sondern reine unemotionale Nahrungsaufnahme, währenddessen vollkommen andere Sachen mit eben der anderen Hand getan werden. Der inhärente Erfolg des Fast Foods: Es bleibt eine andere Hand frei, die genutzt werden kann. Schnelles Essen in beide Richtungen, sowohl bei Herstellung, als auch Konsum.

Ein Plattenspieler jedoch lässt diese Art von bequemer Gedankenlosigkeit gar nicht erst zu. Je nach Größe des runden Tonträgers zwingt sich die Notwendigkeit auf, ihn irgendwann zu wenden, da sie nun mal einen Schluss hat. Und ist dann auch die berühmte wie berüchtigte B-Seite (eine Begrifflichkeit, die mit dem Vinyl-Revival tatsächlich ursprüngliche Bedeutung zurückgewinnen mag) ausgeklungen, bleibt nur das sich wiederholende Klacken aus den Lautsprechern, wenn die Nadel aus dem Ende der Rille der Platte springt.

Schallplatten hören ist tatsächlich das unterhaltsame Warten auf den stillen Entreakt des manuellen Umlegens.

Kein automatischer Sprung an den Anfang zurück. Keine siebzehnstündige Playlist, von denen tatsächlich wenige meine digitale Musikbibliothek bevölkern, jedoch nach egal welchem Standard es sich keinesfalls in ihrer schieren Masse um irgendwelche lieb gewonnen Stücke halten kann.
Es heißt also sitzen bleiben in dem so sehr bequemen Lesesessel, wohlweislich direkt neben dem analogen Abspielgerät, und danach das Warten. Warten die Platte zu drehen oder eine neue aus dem Regal zu nehmen und aufzulegen. Und dazwischen lohnt sich das schlichte unabgelenkte Zuhören — wirklich Musikhören. Und das war es dann auch schon. Nichts weiter.
Schallplatten hören ist tatsächlich das unterhaltsame Warten auf den stillen Entreakt des manuellen Umlegens. Und doch ist es so viel mehr.

Für mich ist dieses Warten der Moment musikalischer Wertschätzung, die ein Hintergrundrauschen am Rande der Wahrnehmungsschwelle nicht einmal versucht zu liefern. Stattdessen bedeutet es einen Akt mit Zweck und bewusstem Erfahren. Und gerade in diesen Zeiten, wo Gedankenlosigkeit sich zu einer Lebensweise erhebt, oftmals sogar notwendigerweise und gewaltsam aufgezwungen, ist dieser einsame Moment etwas, von dem wir mehr haben sollten. Die Fokussierung eine einzelne Sache zu seiner gerechten Zeit, fast schon ein meditativer Akt. Ein vorzüglich und sorgsam bereitetes Mahl zu schmecken und zu fühlen, die Möglichkeit der Wertschätzung bietend für eine Kunstform, von jemanden hervorgebracht, der wertvolle Stunden und Tage seines Lebens in ihre Entstehung verwandt hat. Dadurch auch diese ungeteilte Aufmerksamkeit verdient.

Wie ein Eremit, der sich absichtlich und bewusst dem dröhnenden Grundrauschen der Gesellschaft entzieht, zieht das Vinyl Revival den willentlichen Hörer in die Abgeschiedenheit zurück.
Von Zeit zu Zeit also, nehme ich in meinem Lesesessel platz und werde zu einem Eremiten des Vinyls, eine längst verdiente Pause für Seele und Verstand.

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Sebastian Stapf
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Written by Sebastian Stapf

Analogue-guy being digitally overwhelmed…oh, and of course a writer. And I don’t write infomercials and don’t write for a niche, but what comes to my mind.

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